Roland Stürmer (Aufsichtsratsvorsitzender der BI Sozialpsychiatrie), 1. Juni 2016:
Sehr geehrte Damen und Herren, Herren Oberbürgermeister, Frau Stadtverordnetenvorsteherin, lieber Franz-Josef Hanke, lieber Jochen Schäfer, vor allem aber: lieber Lutz Götzfried! Wie schön, dass Du es zwischen Theaterengagement in Franken als Trunkenbold auf der Bühne, als Vater von Eliza Dolittle und musikalischen Auftritten in Kassel und anderswo mit Deinem Bruder mit Texten von Bob Dillon auf hessisch geschafft hast, zu Deiner Ehrung zu kommen!
Drei von den vielen Seiten von Lutz Götzfried möchte ich heute hervorheben:
Das berufliche politisch-sozialpsychiatrische Engagement
Die unermüdliche ehrenamtliche Tätigkeit
Die seit frühen Kindertagen geübte und praktizierte Bühnenpräsenz
Alles drei ist bei Lutz Götzfried untrennbar zusammengewachsen. Geehrt wird heute sein unermüdlich zum Ausdruck kommender Respekt vor der Würde aller Menschen, sein beruflich wie privat wie künstlerisch gelebtes Engagement für Belange von „Verrückten“, von Menschen, die gerne ob ihres „Eigensinns“ für verrückt erklärt werden, für Belange von Menschen, die sonst wenig bis kein Gehör finden. Er fasst die Menschen, mit denen er arbeitet und arbeitete, nicht mit Samthandschuhen an. Er fordert, macht Mut, unterstützt, lässt sich ein, begegnet auf Augenhöhe. Er treibt an, ist anstrengend mit seiner radikalen Infragestellung von Normen, Normen, die ausgrenzen und Komfortbereiche schaffen zu Lasten von denen, die alleine nicht zurück finden in die Mitte der Gesellschaft, einer Gesellschaft, die sie aus Bequemlichkeit ausgrenzt.
Lutz Götzfried stand nicht alleine. Er drückte von Anfang seiner beruflichen Tätigkeit an das Unbehagen vieler Menschen mit der inhumanen Psychiatrie bis 1972 aus. Antipsychiatrie ist das Schlagwort: Erich Wulfs „Lehrjahre in Vietnam“, Basaglia in Italien, David Cooper und Ronald Laing in England stehen für eine Generation von Ärzten, Pflegern, Sozialarbeitern, kurz engagierten Menschen, die die Zustände nicht mehr ertrugen und hinnahmen. In Marburg wurde die BI Sozialpsychiatrie gegründet. Lutz Götzfried war ihr zweiter Hauptamtlicher.
Die sozialpsychiatrische Landschaft in Marburg und weit darüber hinaus wäre ohne Lutz Götzfried ärmer. Das Besondere der Tätigkeit von Lutz Götzfried war und ist seine Authentizität, dass Berufsausübung, sozialpolitisches Engagement, künstlerische Tätigkeit, handwerkliches Zupacken, dass Beruf und ehrenamtliches Engagement als sein persönlicher Ausdruck nie getrennt sind.
Von Dir gehört habe ich zuerst als Student der Psychologie vor knapp vierzig Jahren, ziemlich am Anfang Deiner Tätigkeit für die BI Sozialpsychiatrie. Persönlich näher kennen- und nachdrücklich schätzen gelernt habe ich Dich ab meiner Vorstandstätigkeit bei Deinem Jahrzehnte-langen Arbeitgeber, der Bürgerinitiative Sozialpsychiatrie, der Bürgerinitiative für soziale Rehabilitation und zur Vorbeugung psychischer Erkrankungen, seit 1983.
Ein Blick zurück:
Lutz Götzfried wird nach Kriegsende 1945 bei Chemnitz geboren. Die Familie siedelt 1948 nach Neuhöfe zu einem Onkel, 1952 nach Ockershausen um. Hier gründet sein Vater eine Buchdruckerei mit zu ihren besten Zeiten 15-20 Mitarbeitern und engem Bezug zur Universitätsbibliothek, wo Lutz als ältester Sohn ebenfalls die Buchdruckerei lernt. Die Mutter schwärmt von Schauspielern und organisiert und spielt mit Freundin und Bekannten Auftritte in der Gaststätte Ruppersberg und Umgebung, zu Weihnachten, mit Operettenszenen. Auch die Kinder sind dabei: Lutz sowie sein 5 ½ Jahre jüngerer Bruder und seine Schwester. Erster Berufswunsch: Schauspieler. Der Vater stirbt plötzlich und der 20-jährige Lutz übernimmt als gerade fertiger Geselle den Betrieb. Früh heiratet er Carin, zu zweit leiten sie den Betrieb, die Mutter zieht mit der Schwester fort, der Bruder durchläuft eine Ausbildung in Frankfurt. Heute wohnen Lutz und Carin Götzfried in der Weidenhäuser Straße und beteiligen sich dort kulturell mit ihren Nachbarn am dortigen Höfefest.
1968, der Umbruch: Studenten werden für Aushilfstätigkeiten eingestellt. Einer, ein Psychologiestudent, diskutiert Nächte durch, brauchte für seine tiefenpsychologische Ausbildung eine Gruppe „zum üben“. „Lichter gingen mir auf“: die politische Auseinandersetzung mit der Nazizeit, Bewusstheit der bis dahin nur halbherzigen Distanzierung vom „3. Reich“ und dessen Spuren in der frühen Bundesrepublik. Abendschule, Fachhochschulreife, Interesse für Psychoanalyse folgen. Schließlich der gemeinsame Entschluss mit Ehefrau Carin, die Buchdruckerei zu verkaufen und Sozialarbeit in Fulda zu studieren. Es ist die Zeit des beginnenden Umbruchs in der Psychiatrie: Noch 1976 fand man Schlafsääle mit 30, ja 60 Patienten. Die Individualität war reduziert auf ein Nachtschränkchen. Hohe, sedierende Medikation, Elektroschocks, Zwangsmaßnahmen regierten. Die Psychiatrieenquete von 1972 prangerte diese Zustände an. „Die Psychiatrie erschien mir wie ein halbes Konzentrationslager“, stellt Lutz Götzfried schockiert nach erster in Augenscheinnahme rückblickend fest.
In Marburg gibt es, 1973 gegründet, die Bürgerinitiative Sozialpsychiatrie, die schon bald Alternativen aufzeigen will: Selbstbestimmtes Wohnen in Kleingruppen. Hier kann er sein Anerkennungsjahr 1976 ableisten. Da diese junge, aufmüpfige Initiative noch nicht die formalen Voraussetzungen erfüllt, springt die Stadt Marburg ein: Das erste halbe Berufsjahr als Sozialarbeiter im Praktikum ist Lutz Götzfried Angestellter der Stadt Marburg, ausgeliehen an die BI Sozialpsychiatrie. Es schließen sich 32 Jahre bis zum Austritt über Altersteilzeit 2008 an, die meiste Zeit als Hausleiter des Übergangswohnheimes Sauersgässchen in der Oberstadt.
Er erzählt mir von der identifizierenden Arbeit mit einem unter Verfolgungswahnvorstellungen leidenden Patienten. Im Zweifel, ob die damalige stationäre Psychiatrie dem jungen Mann helfen kann, erwägt er, sich mit ihm im Zimmer zu verbarrikadieren, reflektiert dann die Absurdität und die Not des Patienten und überredet ihn, freiwillig in die Psychiatrie zu gehen: Dar Patient hoch angepasst im Anzug, adrett gekleidet. Lutz Götzfried noch im Studentenlook mit verzottelten Haaren, wird bei Ankunft im Krankenhaus zuerst für den Patienten gehalten. Prägende Erfahrungen und Ausdruck einer Haltung.
Wer ist verrückt, wer ist normal?
Professor Thomas Bock, Leiter der Psychose-Ambulanz im Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf, sprach vor drei Wochen auf den 10. Psychiatrietagen im Landratsamt über „Psychose und Eigensinn“, das Verstehen des psychiatrisch erkrankten Menschen. In einem Interview äußert er sich zu seinem Verständnis von „Verrücktheit“ (Zeitschrift brand eins, Ausgabe 05/2010, Interviewer Jens Bergmann):
„brand eins: Herr Bock, als Therapeut haben Sie seit 30 Jahren mit Menschen zu tun, die nach landläufigem Verständnis verrückt sind. Inwiefern unterscheiden sich diese Leute von uns?
Thomas Bock: Wenn ich es auf einen Punkt bringen sollte, würde ich sagen: Ihnen fehlt der Filter. Wir sogenannten Normalen haben ein dickes Fell, wir können trennen zwischen innen und außen. Wir sind gewohnt zu verdrängen, was uns Angst machen könnte. Wir haben gelernt zu funktionieren. Im Moment der Psychose funktionieren diese Wahrnehmungsfilter nicht mehr. Menschen sind dann so dünnhäutig, dass es ihnen nicht mehr gelingt, zwischen der Innen- und Außenwelt zu unterscheiden. Innere Konflikte werden zu Stimmen oder Personen, die diesen Menschen von außen gegenübertreten. Äußeres trifft sie ohne Schutz. Die Realität scheint Psychotiker zu überfordern oder gar zu entgleiten. Ähnliches gilt für schwer Depressive, die alles schwarzsehen, oder für Maniker, die auf rosa Wolken schweben – auch sie sehen die Wirklichkeit ganz anders. Doch alle diese Phänomene sind zutiefst menschlich. Wir sind Lebewesen, die an sich zweifeln und verzweifeln können, die über sich selbst hinausdenken – und sich dabei auch verlieren können. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem, was wir Normalität und Wahnsinn nennen. So wäre es beispielsweise nicht schwer, Sie in einen psychotischen Zustand zu versetzen.
Wie würden Sie das anstellen?
Wenn man Sie in einen total dunklen, schallisolierten Raum sperrt, fangen Sie irgendwann an zu spinnen. Sie halluzinieren, Sie hören Stimmen – weil Sie nicht ohne Echo sein können. Das ist eine natürliche Reaktion. Ebenso, wie auf Durchzug zu schalten, um sich vor furchtbaren Erlebnissen zu schützen. Was Menschen voneinander unterscheidet, ist der Grad ihrer Verletzlichkeit. Einige sind dünnhäutiger als andere, und bei manchen verselbstständigt sich der Schutzmechanismus der Seele, sie werden krank.
Warum irritieren uns Verrückte so sehr?
Weil sie uns sehr unvermittelt mit existenziellen Themen konfrontieren, für sich und andere anstrengend sind und weil wir gewohnt sind, ungewöhnliche Dinge aus unserer Wahrnehmung auszusortieren.“
Wahrnehmen von Krankheit, Alter, Tod, sozialer Not löst bei vielen Menschen ebenfalls unangenehme Gefühle aus und ist weitgehend aus dem Alltag gedrängt. Dieser intuitive „Lösungsansatz“ im Umgang mit belastenden Empfindungen war im gesellschaftlichen Konsens bis 1972 im Blick auf auffällige psychiatrische Krankheitsbilder besonders nachhaltig und konsequent „gelungen“. Psychiatrische Anstalten lagen abseits mit einem riesengroßen Einzugsgebiet weit weg vom pulsierenden Leben der Innenstädte oder von gemütlichen Wohngegenden. Die so aus der Gesellschaft herausgelösten Menschen fühlen sich nicht selten in ihrem Nicht-Funktionieren wertlos und schuldig. Die Ausgrenzung derjenigen, die durch Krankheit störten, führte oft dazu, dass die Betroffenen sich selbst stigmatisierten und sich nicht selten scheinbar freiwillig zurückzogen. Das schloss meist die Angehörigen mit ein, wenn sie erkrankte Familienangehörige, schamvoll leidend oder sich distanzierend, versteckten und verschwiegen.
Meine Damen und Herren! Das Normale, das Gesunde, das Verletzliche im Anderen zu sehen ist die Kunst, die Lutz Götzfried lebt. Heute ist es sicherlich viel einfacher, einen Patienten in einer Krise zu überzeugen, sich einer modernen psychiatrischen Klinik anzuvertrauen. Die eben zitierte Sichtweise von Thomas Bock ist andererseits nicht Konsens, aus meiner Sicht ein Ideal, das in einer vorwiegend biologisch ausgerichteten Psychiatrie, in der die sozialen Unterstützungsleistungen im Minutentakt abgerechnet werden, leider Ausnahme ist, aber prominente Ausnahme.
Lutz Götzfried hat Maßstäbe gesetzt in der Herangehensweise an Patienten. Er hat sich mutig getraut, radikal das Prinzip der Ausgrenzung in Frage zu stellen und dabei riskiert, Fehler zu machen. Anders geht das nicht. Er ist dabei angeeckt, bei der Leitung, bei den KollegInnen, bei, wie wir heute sagen möchten, „Psychiatrie-Erfahrenen“. Durch die immer vorhandene Dialogbereitschaft, dem neugierigen Suchen nach einer gangbaren Begegnungsebene, hat er Anstöße gegeben ohne Ende. Er hat motiviert und ein Team gefunden und aufgebaut, das den Raum dafür bot. Und er hat Unterstützung gefunden bei seiner Frau Carin, durchgängig.
Schon 1976 entstand der „Circus Clapsus“ mit einer Schallplattenaufnahme, später das „Psychiatrie-Kabarett“. Mit „Betreuten“, BewohnerInnen der BI-Einrichtungen, erarbeitete er Kulturprogramme mit zahlreichen Auftritten. Wir haben schon eine Kostproben daraus hören dürfen. Auf der 30-Jahrfeier der BI, 2003, saß ich während einer Aufführung des Psychiatriekabaretts neben einem bekannten Kliniksdirektor, der irritiert fragte, das seien aber doch jetzt MitarbeiterInnen auf der Bühne. Waren es nicht, keiner, keine. Seine Aufmüpfigkeit findet ihren Ausdruck auch in seinen sonstigen Bühnenprogrammen wie der Vertonung bzw. der Lesung von Texten von Francois Villon, in den nicht zufällig gewählten bzw. ihm anvertrauten Rollen bei den oberfränkischen Theatertagen, unterstrichen von seinem künstlerischen Ausdruck am Instrument.
Arbeit? Haltung? Ehrenamtliches Engagement?
Eine Herzensangelegenheit war für Lutz Götzfried immer die Teilhabe am Arbeitsleben für psychisch Kranke. Er stand Pate für unser Naturkostladenprojekt „Caretta gGmbH“ mit ihren „Dreyerley“-Läden. Die am Ende über 30 Arbeits- und Ausbildungsplätze gingen in der durch zu geringe, durch wenige fehlende Zuschüsse erzwungenen Insolvenz nach 18 erfolgreichen Jahren verloren. Während wir, im Vorstand der BI, noch Trauer trugen, gründete Lutz Götzfried neben seiner Arbeit den Verein „Mobilo e.V.“, in dem stundenweise Geld verdient werden konnte mit Renovierungsarbeiten, Reinigung, Entrümpelung. Selber Zupacken war eine Selbstverständlichkeit. Noch mehr mit Eintritt in den Ruhestand mit der Übernahme des Turmprojektes. Schaffung eines weiteren Ausflugszieles mit dem Turm-Cafè und seinem Kulturprogramm. Es musste renoviert werden, es muss der Service bereit gestellt werden. Es muss Kuchen gebacken werden. Ein Highlight in der Marburger Kleinkunstszene und ein beliebtes Lokal für Familienfeiern ist daraus entstanden, vor drei Jahren vom Landeswohlfahrtsverband als vorbildliches Integrationsprojekt hoch geehrt mit dem angesehenen Walter-Picard-Preis.
Beide Projekte, Caretta und Mobilo e.V., forderten bzw. fordern: Vor allem von den psychisch Kranken, die dort arbeiten, manche vielleicht nur mit einer 4-Stunden- Schicht pro Woche. Der ständige KundenKontakt ist eine Herausforderung besonderer Art. Die jeweils eigene Belastungsgrenze muss erkannt werden. Der Arbeitsplatz mit Kundenkontakt ist nicht so geschützt wie der in einer Behindertenwerkstatt oder einer Tagesstätte. Auch das gehört zur Haltung: Verantwortung für die jeweils eigenen Leistungsgrenzen dem Psychiatrie-Erfahrenen zutrauen und zumuten. Teilhabe am Leben ermöglichen. Leicht ist es nicht, mit einer chronischen psychischen Erkrankung zu leben. Aber wir alle können es erleichtern. Und wir brauchen mutige Menschen, die an der Arbeit, im Privatleben, mit ihren Fähigkeiten, Akzente setzen, den Finger auf die Wunde legen, laut sprechen, wo viele schweigen. Lutz Götzfried hat die Teilhabe psychisch Kranker an der Gesellschaft eindrucksvoll gefördert und ihrem Anliegen durch seinen Einsatz geholfen sich zu artikulieren.
Vielen Dank Dir, Lutz!!
Hier können Sie die Laudatio von Roland Stürmer zur Verleihung des „Marburger Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte“ an Lutz Götzfried herunterladen.