Spiegelslustturm – Höhe(n)punkt, Symbol und mehrfacher Glücksfall
Es gibt eine Erzählung über Marburg, die geht so: Die heilige Elisabeth legte mit ihrem Einsatz für die Kranken den Grundstein für eine soziale Tradition, die über die Jahrhunderte bis zum heutigen Tag lebendig ist. So wurde vor knapp 100 Jahren die Blindenstudienanstalt gegründet, Ende der 50er-Jahre die Bundesvereinigung Lebenshilfe und in den letzten Jahrzehnten ein Netzwerk an psychosozialen Einrichtungen.
Diese Erzählung ist vielleicht ein klein bisschen kitschig und selbstgefällig. Aber sie bleibt mit jedem neu geknüpften Knoten im sozialen Netzwerk Marburgs lebendig. An keinem Ort wird diese Geschichte plausibler als ausgerechnet am höchsten Punkt dieser Stadt: dem Kaiser-Wilhelm- oder populärer: dem Spiegelslustturm.
Das dortige TurmCafé im 36 Meter und 167 Treppenstufen hohen Sandsteinturm ist in den letzten knapp 10 Jahren zur touristischen Attraktion mit einem atemberaubenden Rundblick in 409 Meter windiger Höhenluft geworden. Auf Initiative von Lutz Götzfried und seiner Frau Karin, beide leidenschaftliche Flamenco-Musiker, haben sich das TurmCafé mit TurmStube und WaldBühne zu einer wichtigen Kultur-Location gemausert. Und das Programm ganz ehrenamtlich organsiert. Da bieten Antonio Andrade Flamenco, Georg Schroeter & Marc Breitfelder Blues auf ähnlich internationalem Level; von (Bob) Dylans Dream, Tango, klassischer Gitarre über Kabarett, Lesungen, Foto- und Kunstausstellung bis hin zum monatlichen „TurmSingen“ von Volksliedern oben in der TurmStube reicht das Spektrum.
Neben den Kulturveranstaltungen ist der Turm unter der professionellen Geschäftsführung von Andrea Buchenauer Schauplatz aller möglichen privaten, familiären und betrieblichen Feiern von der Hochzeit und dem 50. Geburtstag bis zur Feier von Novartis oder Ärztevereinigung PRIMA. Zum monatlichen Sonntags-Brunch braucht man meist eine lange Vorbuchung. Hier waren schon Gäste aus ganz Europa – mindestens.
Das Besondere an dem TurmCafé aber ist die Trägerschaft von mobilo GbR. Die aus der BI Sozialpsychiatrie hervorgegangene Einrichtung bietet Arbeitsplätze für Menschen mit psychischer Behinderung, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance hätten. Inklusion konkret: Durch die Übernahme von Verantwortung im täglichen Service an 364 Tagen im Jahr und der Zuständigkeit für die anfallenden Aufgaben gelingt nicht nur eine berufliche, sondern auch eine soziale Integration.
„Ich bin begeistert, das ist wie mein Eigenes“, erklärt Marion Fenner. Nach einem Konkurs als Gastronomin und schwerer psychischer Erkrankung kam sie zum mobilo-Start 2005 ins TurmCafé.
Peter Hilger, gelernter Krankenpfleger, der hier im Hausmeister-Bereich arbeitet, bilanziert nicht ohne Stolz: „Ich war seit 9 ½ Jahren nicht mehr im Krankenhaus, das hat viel mit dem Turm zu tun.“
„Wir wollten weg von der rein psychischen Nabelschau zu ganz praktischen Aufgaben. Die Symptomatik spielt hier keine Rolle“, erklärt Initiator Lutz Götzfried, Sozialarbeiter im Ruhestand der BI Sozialpsychiatrie und im Juni mit dem Historischen Stadtsiegel geehrt. „Aber keiner steht hier allein“, bekräftigt das Team unisono. Es sind immer zwei Mitarbeiter/-innen im Einsatz. Was den Café-Betrieb betriebswirtschaftlich sicherlich von rein marktwirtschaftlichen Cafébetrieben unterscheidet. Fünf Jahre wurde das Projekt von „Aktion Mensch“ unterstützt. Mittlerweile muss es auf eigenen Füßen stehen. Die Kosten eines zweimonatigen Psychiatrieaufenthaltes würden übrigens reichen, um die Finanzierungslücke zu decken.
„Der Turm“ ist ein „Glücksfall“, wie nicht nur die Götzfrieds sagen: touristisch, kulturell, psychosozial – und sie geben zu, „als Aufgabe auch für uns persönlich“. All das vermittelt sich auch den Gästen, die die rücksichtsvolle Atmosphäre zurückgeben. „Hier sind die Gäste viel netter als sonst“, urteilt die erfahrene Gastronomin Marion Fenner.
All das drückt sich hoch über der Stadt auch künstlerisch aus. Das Motiv für das acht Meter hohe und 1,4 Tonnen schwere Lichtkunstherz hat die Künstlerin Helmi Ohlhagen filigran aus Ornamenten des Portals der Elisabethkirche entwickelt. „Siebensiebenzwölfnullsieben“ heißt das Projekt des Kulturamtes aus dem Elisabethjahr 2007. Am 7.7.1207 war vermutlich der Geburtstag der heiligen Elisabeth. Deshalb die Telefonnummer 09005-771207, mit der das Herz zum Leuchten gebracht werden kann (ins lokale Festnetz auch billiger über 06421/590469). Es leuchtet die ganze Nacht, wenn ein/e Marburger/in 100 oder mehr Jahre alt wird. Kein kommerzielles, sondern ein künstlerisch-soziales Symbol am höchsten Punkt der Stadt. Dazu noch interaktiv. Das passt zu der herzlichen Erzählung der Stadt über sich selber.
Text: Richard Laufner